"Die Meißelschrift vom Glauben an den Geist" (chin. "Hsin-shin-ming" od. "Shinjinmei") des chinesischen Meisters Seng-ts´an (jap. Sosan, gest. 606) gehört zu den Basiswerken des Zen-Buddhismus und den großen Schriften der spirituellen Weltliteratur.

Der legendenumwobene Autor dieses Werkes war der dritte Patriarch des Zen in China, und er gab der Entwicklung dieser meditativen Richtung des Buddhismus entscheidende Anstöße. Wie viele große Meister des Zen verstand er es, seine "Spuren in der Welt" so weit zu verwischen, daß kaum etwas über seine Lebensgeschichte überliefert ist.

Sein geistiges Vermächtnis jedoch, das er in den knappen, an Laotse erinnernden Sprüchen dieser Meißelschrift niederlegte, blieb über 1500 Jahre hinweg in der Zen-Tradition lebendig und gilt bis heute als unschätzbares Mittel zur Schulung des Geistes auf dem Weg des Zen. Deutlicher als in vielen anderen Zen-Texten treten hier auch die taoistischen Wurzeln des Zen-Buddhismus zutage, der in China aus der Verschmelzung von Buddhismus und Taoismus entstand.

Der Weg des
Glaubens an den Geist
Soko Morinaga Roshi

Wir wissen nicht, wann und wo Sosan geboren wurde. Bekannt ist nur, daß er wahrscheinlich ziemlich lange als Laie gelebt hat und mit ungefähr vierzig Jahren zu Eka (chin. Hui-k´o, 487-593), dem zweiten Patriarchen des Zen in China, kam - vollkommen unbekannt und krank. Früher herrschte im Osten genauso wie im Westen die Vorstellung, daß eine Krankheit das Resultat vergangener Sünden sei. Das war also eine nur im negativen Sinne ausgelegte Konzeption des karmischen Prinzips von Ursache und Wirkung, und es scheint, als ob auch dieser Laie, der später den Namen Sosan erhielt, seine körperlichen Gebrechen auf Sünden der Vergangenheit zurückführte. Die erste Begegnung mit Eka wird folgendermaßen beschrieben:

Sosan sagte: "Ich bin krank. Bitte, Meister, reinigt mich von meinen Sünden, die der Grund für meine Krankheit sind." Eka antwortete: "Bringe mir deine Sünden her, dann werde ich dich von ihnen reinigen und dir Frieden geben." Sosan schwieg für eine Weile und sagte dann: "Ich kann meine Sünden nirgends finden." Daraufhin erwiderte Eka: "Ich habe sie hiermit für dich vernichtet."

Im weiteren Verlauf des Gesprächs der beiden erkannte der zweite Patriarch, daß dieser Laie ein außergewöhnlicher Mensch war, bereit, die wahre Lehre in sich aufzunehmen. Er weihte ihn zum Mönch und gab ihm den Namen Sosan. Über Eka selbst wird berichtet, daß er in seiner ersten Begegnung mit Bodhidharma, dem 28. indischen Patriarchen, der das Zen nach China brachte und damit zum ersten Patriarchen des Zen in China wurde, durch das Abschneiden seines linken Armes den festen Entschluß zur Übung bewies und daraufhin von Bodhidharma als Schüler akzeptiert wurde. Das Gespräch zwischen Eka und Bodhidharma ist folgendermaßen überliefert: Eka bat Bodhidharma: "Mein Geist ist nicht in Frieden. Bitte Meister, befriedet ihn für mich." Bodhidharma sagte daraufhin: "Bring mir deinen Geist her, dann werde ich ihm für dich Frieden geben." Eka schwieg eine Zeit lang und sagte dann: "Ich habe nach ihm gesucht, kann ihn aber nicht finden." Bodhidharma sagte: "Ich habe ihn für dich befriedet."

In beiden Geschichten wird genau das gleiche auf verschiedene Weise beschrieben. Selbst wenn man sagt, daß diese beiden Dialoge fiktiv sind, so beeinträchtigt dies doch nicht die Tatsache, daß wir uns die Essenz dieser beiden Begebenheiten gut und genau ansehen sollten. Es gibt sogar noch einen dritten ähnlichen Dialog, und zwar zwischen>

Sosan und seinem Schüler Doshin (chin. Tao-hsin, 580-651), dem späteren vierten Patriarchen. Doshin sagte: "Bitte Meister, lehrt mich, wie ich Befreiung erlangen kann." Sosan sagte: "Wer fesselt dich?" Doshin erwiderte: "Da ist niemand, der mich fesselt." Sosan sagte: "Warum suchst du dann nach Befreiung?" Bei diesen Worten erfuhr Doshin große Erleuchtung.

Dreimal fast die gleiche Geschichte - die Worte unterscheiden sich zwar, aber der Inhalt ist ziemlich identisch. Kostet diese Dialoge aus, denn das, worauf sie uns hinweisen und was zu erkennen wichtig ist, ist die Tatsache, daß ganz gleich wie Geist auch immer wirkt, es ursprünglich keine Unruhe in diesem Geist gibt; daß unabhängig davon, wie viele Sünden wir willkürlich erzeugen, es keinen Geist gibt, der davon befleckt oder verletzt sein könnte; daß es, selbst wenn unzählige Menschen fesseln, keinen Geist gibt, der gefesselt werden könnte. Dies ist der Geist, der im Shinjinmei besungen wird.

Glaube ist ein Wort, das man oft nur mit den psychischen Aktivitäten eines Menschen in Zusammenhang bringt und das sich somit auf einen Bedeutungsinhalt beschränkt, der im Gegensatz zum Zweifel steht. Ich möchte deshalb an dieser Stelle eindringlich betonen, daß ihr Glaube nicht lediglich als "Nichtzweifel" verstehen dürft. Zweifel oder Nichtzweifel, Ablehnung oder Zustimmung, beides sind geistige Aktivitäten, die auf dem eigenen Selbst und seinen jeweiligen Vorstellungen und Begriffen beruhen.

Glaube jedoch ist das Überschreiten dieser Konzeptionen, ist ein Sich-Überlassen, ein Sich-Ergeben. Und es gibt nur eines, dem wir uns wirklich ergeben können: das, was von keiner Sünde befleckt wird, was von nichts gefesselt wird und sich in allen Bedingungen frei und ungehindert bewegt. Seid an diesem Punkt wirklich vorsichtig und verfallt nicht in den Fehler, zu denken, daß der gläubige Geist und der Geist, an den geglaubt wird, in anderen Worten, daß der Glaube und Geist verschiedene Dinge seien.

Wir neigen dazu, zwischen dem eigenen Geist, dem Geist, der glaubt oder zweifelt, der sich verschiedene Dinge ausmalt und dem Geist, dem wir uns ergeben, einem wunderbaren, außer-gewöhnlichen Geist - also zwischen einem Geist der gewöhnlichen Menschen und einem Buddha-Geist - zu unterscheiden. Daß es ursprünglich jedoch keine Trennungen gibt, daß Buddha-Geist und gewöhnlicher Geist nicht verschieden sind, wurde für uns im Shinjinmei niedergelegt und überliefert. Und in diesem Glauben gibt es keine Rangordnungen, keine Unterscheidung von "Hörer", "Einsam-Erwachter" und "Erleuchtungs-wesen". Hier wird uns allen vielmehr geradewegs gesagt: Glaube und Geist sind Nicht-Zwei.

Der Geist, der in jedem von uns wirksam ist, und der Geist, der unbegrenzt alles durchdringt, sind Nicht-Zwei. Zeitlich und räumlich - ewiger Geist, nur klarer, alles durchdringender Geist. Dieser Geist ist nicht einfach eine auf die eigene Person beschränkte geistige Aktivität, sondern das Leben an sich, das Leben, das alles gebiert und das sich in allem, in jedem von uns, manifestiert. Diese ursprüngliche Kraft, die uns leben läßt, und das Leben des Universums sind nicht verschieden.

Es genügt jedoch nicht, dies nur intellektuell zu begreifen. Ihr müßt es so duchdringen, daß auch nicht für den kleinsten Zweifel Raum bleibt. Dies ist der Geist-Zustand, der im Shinjinmei im letzten Vers besungen wird:

Der Weg der Worte
ist zu Ende -
keine Vergangenheit,
Zukunft und Gegenwart.

Es ist ein Geist-Zustand, der jenseits von Worten und Erklärungen ist und zu dem es nur einen Zugang gibt - direktes, unmittelbares eigenes Erkennen.

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aus der Einleitung zum Buch:
"Die Meisselschrift vom Glauben an den Geist"
Das geistige Vermächtnis des dritten Patriarchen des Zen in China, Seng-Ts´an.
Mit Erläuterungen des modernen japani-schen Zen-Meisters Soko Morinaga Roshi
O.W.Barth Verlag

 

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