"Da der Geist seinem wahren Wesen nach
ohne Dualität ist, nicht verschieden
von der Einheit allen Seins,
wird unser Leben zu unserer Meditation"

Wege zum Gleichgewicht
Der tibetische Weg

nach Tarthang Tulku

Aus der tibetischen Tradition des Buddhismus ergeben sich für den westlichen Menschen bisher nur selten begangene Wege zu einer harmonischen Geistigkeit, mit der sich das Leben neu gestalten läßt, ohne mit den eigenen geistigen und kulturellen Wurzeln brechen zu müssen.

Sie stellt eine Möglichkeit dar, ohne die Errungenschaften westlicher Kultur zu verwerfen, die östliche Denkweise nutzbar zu machen, indem eine Synthese menschlicher Bestrebungen geschaffen wird, die kein bloßer Synkretismus ist, sondern zu einer lebendigen Geisteshaltung werden kann.

"Der wirkliche Prüfstein unserer Macht und unseres Fortschrittes liegt in unserer Fähigkeit, Hindernisse und Emotionen in positive Erlebnisse zu verwandeln."

Diese Geisteshaltung wird möglich, wenn wir das menschliche Bewußtsein unvoreingenommen ergründen, wie dies sowohl in tibetisch-tantrischer als auch in der modernen Psychologie geschieht.

Es ist ein Charakteristikum des Buddhismus, daß er nicht auf einem bloßen Fürwahrhalten, einem blinden Glauben begründet ist, sondern auf eigenem Erleben und auf der durch Erleben gewonnenen Überzeugung. "Darum ist jeder einzelne Aspekt unserer Erfahrung, unseres Erlebens wertvoll. Nichts darf weggeworfen werden. Das Fließen ist ein sich selbst erhaltender, sich selbst entwickelnder Vorgang"

Der Buddhismus ist in Wirklichkeit eine Geste des Gleichgewichts, ein Führer zur Wahrnehmung, zur Selbstheilung und Meditation. "Meditation ist einfach ein Leben in der Gegenwart. Wenn wir aufhören, uns an irgendwelche Erfahrung zu klammern, können wir das Ich überwinden.

Der Ausgangspunkt ist Ehrlichkeit, Ehrlichkeit uns selbst gegenüber, durch die wir uns als Teil des breiten Lebensstromes mit seinen Schwierigkeiten und Problemen verstehen. Dadurch, daß wir an dem sich immer und weiter verbreitenden Lebensstrom teilhaben, können wir nur dann wachsen, wenn wir nicht gegen ihn ankämpfen, und wir müssen lernen uns zu entspannen, damit der Lebensstrom ungehemmt in uns fließen kann. Entspannung ist demnach die unabdingbare Voraussetzung für jegliche Meditation. Und Meditation ist die Einstimmung auf diesen Lebensstrom. Meditation im Sinne der Einstimmung führt uns zu erhöhter Wachheit, in der die willkürlich zwischen Subjekt und Objekt gezogenen Grenzen durch gesteigerte Bewußtheit überschritten werden.

Ein Mensch, der sich auf der Stufe des Hinayana-Buddhismus befindet, erkennt, daß Unbeständigkeit und Unzulänglichkeit die zentralen Merkmale des Lebens sind. Sie müssen klar erkannt und berücksichtigt werden. Es versteht sich von selbst, daß jeder für sich die Verantwortung übernehmen muß, Unzulänglichkeit im Leben zu überwinden und jene Eigenschaften zu entwickeln, an die er sich halten muß, sollen seine menschlichen Fähigkeiten voll entfaltet werden. Eigene Anstrengung wird verlangt, da darauf verzichtet werden muß, nach Erlösung von seitens eines anderen zu rufen.

Eine solche reife und wirklichkeitsbezogene Haltung wird im Mahayana durch die Betonung des Mitgefühls für andere und eine tiefere Einsicht in das Wesen der Erscheinungsformen ergänzt. Diese Einsicht des Mahayana verdeutlicht, daß alle Erfahrungen, wie begrenzend und unzulänglich sie auch sein mögen, eine offene Dimension haben. Deshalb brauchen wir nicht nach individueller Ausflucht zu suchen. Da wir nun unsere eigene Lage nicht länger als dermaßen begrenzt, unsicher und unzulänglich ansehen, entspringt aus dieser Einsicht ganz spontan Mitgefühl. Wir befassen uns mehr mit den Schwierigkeiten anderer und können uns erlauben, ihnen Hilfe zu leisten. Da diese Art des Mitgefühls mehr auf einem Verstehen der Situation als auf rührseligen Projektionen beruht, ist es zumeist angemessen und hilfreich.

Denjenigen, die sich durch Hinayana- und Mahayanalehren vollständig über ihre Lage klar geworden sind, bietet der Buddhismus noch den Vajrayana als weiterführenden und vollendenden Pfad. Vajrayana ist ein Weg zu unbegrenzter Entwicklung. Es überschreitet alle dualistischen Meditationsformen und abstrakten Begriffe. Im Vajrayana wird das Leben nicht als Schwierigkeit betrachtet, die es zu bewältigen gilt, sondern als eine Erfahrungsmöglichkeit unendlichen Reichtums und schöpferischer Kraft. Nichts wird abgewiesen oder unterdrückt, denn auf dem Vajrayanaweg entwickelt der Praktizierende ausreichende Fertigkeit und Sensibiblität, die ihn in die Lage versetzen, zum positiven Aspekt allen Lebens in Beziehung zu treten.

Wenn wir unsere gewöhnlichen Erfahrungen offen betrachten, ohne über sie zu urteilen oder sie begrifflich zu sezieren, sehen wir "Subjekt" und "Objekt" ganz von allein als Einheit. Auf diese Weise wird der spirituelle Pfad Bestandteil unseres Lebens. Wenn meditatives Erleben wahrhaft ein Teil unserer selbst ist, erscheinen in unserem Alltagsleben ganz natürlich spirituelle Werte und wir können sicher sein, daß meditative Bewußtheit uns durch alle möglichen Situationen, denen wir ausgesetzt sind, tragen wird.

Wenn diese Inspiration und dieses innere Vertrauen zu unserem Lehrer wird, dann sind wir bereit, den Geist zu entdecken und ihn zu erfahren, "lebendig, fein und leuchtend wie die strahlende Sonne."

Tarthang Tulku konnte seine Ausbildung in Tibet noch vor der Zerstörung der Klöster durch die Chinesen vollenden. Er ging dann in den Westen und studierte Psychologie in Frankreich und den USA. Er versteht es somit dem Leser die Tech-niken des jahrhundertealten tibetischen Kloste-studiums als Lebenshilfe für den westlichen Alltag nahezubringen

aus:
Wege zum Gleichgewicht.
Höheres Bewußtsein, Selbstheilen und Meditation"

Tarthang Tulku, Heyne Verlag

 

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